Wo das Glück unserer Träume greifbar ist, das kann ein Platz am anderen Ende der Welt sein oder direkt um die Ecke. Jeder hat seine Sehnsuchtsziele, die er gerne einmal besuchen oder wiedersehen möchte. Jetzt in der Ferienzeit ist es für viele ein weit entfernter Urlaubsort. Manche möchten oder können aber nicht weit fahren oder sind noch unentschlossen. Wir können da vielleicht eine Entscheidungshilfe leisten: Frei nach dem Motto: „Warum in die Ferne schweifen …“ stellen wir Ihnen ein paar nahe Sehnsuchtsorte vor, die Sie begeistern werden.
Nein, die Deutsche Tonstraße hat nichts mit Musik zu tun. Die 215 Kilometer lange Erlebnistour führt durch vielfältige märkische Naturlandschaft vom Speckgürtel Berlins bis an den südlichen Rand der Mecklenburger Seenplatte. Dazwischen liegen Stopps an Produktions- und Kunststätten rund um den Werkstoff Ton. Einer der schönsten ist in Marwitz bei Velten.
Zeitlos, alltagstauglich, ästhetisch: zu Gast bei HB
1934 entschied sich die damals 27-jährige Hedwig Bollhagen für den kleinen Ort im Norden Berlins. Die Gegend kannte die junge Keramikerin schon aus ihren „Wanderjahren“ während der Weltwirtschaftskrise, die sie unter anderen nach Velten führten. Sie blieb in Marwitz, gleich neben dem Produktionsgebäude und dem Werksverkauf befindet sich das einstige Wohnhaus einer Frau, die heute als eine der bedeutendsten Keramikerinnen der Moderne gilt. Ihre vom Bauhaus inspirierten unverwechselbaren Produkte stehen längst in Museen, sind preisgekrönt, Sammler- und Liebhaberstücke und werden in bekannten europäischen Galerien gehandelt. Von ihr selbst stammt der bescheidene Satz: „Kunst? Ach ja, manche nennen es so. Ich mache Teller, Tassen und Kannen.“ Die große alte Dame ist in der Manufaktur allgegenwärtig. An den Arbeitsplätzen zwischen der Masseaufbereitung (dem Ort, an dem der einfache Werkstoff Ton ankommt und mit Wasser aufbereitet wird), über Gießerei und Brennerei bis hin zur Malerei hängen Fotos von Hedwig Bollhagen – so als wache sie noch immer über die Bewahrung ihrer Formen, Designs und Dekore. Die alte Dame wäre vermutlich höchst zufrieden, denn in der Manufaktur entstehen die Teller, Tassen, Vasen, Schalen, Dosen, Kannen … noch immer in traditioneller Handarbeit, und nicht nur Insider erkennen auf den ersten Blick das Bollhagen-Dekor in seiner stilsicheren grafischen Schlichtheit. Nur der Preis würde wohl der Künstlerin (sie selbst hätte diese Bezeichnung sicher nicht gemocht) Kummerfalten auf die Stirn treiben, war es doch stets ihr Anspruch, dass sich jedermann ihr schnörkelloses Alltagsgeschirr leisten könne. „Das ist heute nicht mehr machbar“, konstatiert Steffen Blochel, Geschäftsführer der HB International GmbH, und begründet das: „Rund drei bis vier Wochen dauert es, ehe ein Produkt fertig ist. Dabei geht es durch 40 bis 60 Hände.“ Hinzu kommen aktuell die enorm gestiegenen Energiepreise, die besonders beim zweimaligen Brennen der Keramik die Kosten zusätzlich in die Höhe treiben. „Bedenken ja, aber keine Existenzangst“, so der Geschäftsführer. Die zeitlos-schönen Erzeugnisse der HB-Werkstätten sind gefragt wie eh und je. So konnte sich das Team über einen großen Auftrag aus Potsdam freuen. Im Museumscafé Hedwig (eine Hommage an Hedwig Bollhagen) des im Herbst vergangenen Jahres neu eröffneten Kunsthaus DAS MINSK trinken die Gäste ihren Kaffee aus HB-Geschirr, auch die Fliesen des Hauses kommen aus Marwitz. Zudem reifen neue Ideen. In der Corona-Zeit wurde der HB-Online-Shop weiterentwickelt und optimiert. Manufaktur 2.0.
„Der Ton gibt die Zeit vor“, erklärt Steffen Blochel die Arbeitsschritte in den HB-Werkstätten, die heute noch immer die gleichen sind wie in den Gründerjahren der Manufaktur. Selbst die alten Gemäuer werden nur behutsam modernisiert. Die drei alten Brennöfen, die inzwischen durch modernere ersetzt wurden, hüten wertvolle Schätze: Stücke, die Hedwig Bollhagen in Marwitz schuf und die nach ihrem Tod in den Werkstätten verblieben. Noch mehr Historisches zeigt die ständige Hedwig-Bollhagen-Ausstellung im Ofen- und Keramikmuseum in Velten.
Mehrfach im Jahr öffnen die Werkstätten zu Tagen der offenen Tür, und die Besucher haben die Chance, selbst zu erleben, wie viel Arbeit, Erfahrung und Fingerspitzengefühl notwendig sind, bis ein handgefertigtes Einzelstück entsteht. Der hauseigene Werkverkauf (Montag bis Samstag 10.00 – 18.00 Uhr) erhebt Marwitz in den Rang eines beliebten Ausflugsziels in der Region. Wer den Raum betritt, ist immer wieder aufs Neue fasziniert von der Harmonie aus Form und Farbe – ein Crescendo der Ästhetik. Es ist eben doch Musik im Ton.
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