Was kann helfen, nicht in die Depressions-Falle zu tappen?
Hektik, Lärm, Enge – Stressfaktoren in den Großstädten beeinträchtigen die psychische Gesundheit. Weltweit leiden die Städter viel häufiger an Depressionen und Angstzuständen als die Landbevölkerung. Psychose-Erkrankungen treten sogar doppelt so oft in den Städten auf wie auf dem Land. „Es ist schon so, wie Untersuchungen in Deutschland bereits in den 60er-Jahren feststellten, dass es ein erhöhtes Risiko darstellt in psychische Krisen zu geraten, wenn jemand vor allem die ersten 15 Lebensjahre in der Stadt verbringt. Menschen, die in ruhiger Umgebung auf dem Land groß geworden sind und dann in die Stadt kommen, haben nicht dieses Risiko“, sagt Dr. med. Iris Hauth. Die Psychiaterin und Psychotherapeutin ist Chefärztin des Alexianer St. Joseph Krankenhauses in Berlin Weißensee. Das Krankenhaus mit 400 Mitarbeitern ist auf die Gebiete Neurologie, Psychiatrie und Psychotherapie spezialisiert.
Stress des sozialen Abstiegs
Es gebe natürlich viele Stressfaktoren in der Stadt, so Dr. Hauth. Dazu gehören nicht nur Lärm und Hektik, sondern generell eine Reizüberflutung, aber auch toxische Stoffe und häufigere Infektionen. „Doch die Städte üben auch positiven Einfluss auf seine Bewohner aus, bieten Inspirationen, kulturelle und gesellschaftliche Einflüsse. Deshalb sollte man die Stadt nicht verdammen“, mahnt die Ärztin. Aber bei den Ursachen von Stressfaktoren ist der Bogen weiter zu spannen. Es geht darüber hinaus um Menschen, die in eine ungünstige psychosoziale Situation geraten, mit niedrigem Einkommen und Bildungsniveau. In einer kürzlich erarbeiteten Studie in den Berliner Stadtbezirken Wedding und Tiergarten wurden repräsentativ 500 Bewohner untersucht. Es zeigte sich, dass der Anstieg der Anzahl von Arbeitslosengeld- II-Empfängern, die also von Hartz IV leben müssen, zu einer höheren Gesundheitsbelastung führte. Ursachen dafür sind erhöhte Diskriminierung, möglicher sozialer Abstieg, vor allem soziale Isolierung und das aufkommende Gefühl des „abgehängt Seins“.
„Die Stressfaktoren und die Überreizung erleben ja alle Städter“, so die Schlussfolgerung von Dr. Hauth. „Aber Menschen mit mehr Freiräumen, die selbstbestimmter leben, können sich eher schützen. Für diejenigen mit geringem finanziellem Rückhalt scheinen die bestehenden Stressfaktoren eine größere Wirkung zu erzielen.“ Stellt man sich die Frage, wie viele Berliner durch Stressfaktoren gefährdet sind, psychisch zu erkranken, ist eine Antwort in der sozialen Situation der einzelnen Stadtbezirke zu suchen.
Besonders spannend sind für die Chefärztin neueste Experimente. Sie beweisen, dass sich auch das Gehirn der Menschen verändert, die in Großstädten unter Stressfaktoren einschließlich sozialen Stresses aufgewachsen sind. „Im Gehirn spielen mehrere Regionen bei der Stressverarbeitung eine Rolle, beispielsweise der Mandelkern, Amygdala, aber auch andere Regionen, die eng mit dem Stress-System verbunden sind. Es zeigt sich, dass Menschen, die in Städten groß geworden sind, auch im Erwachsenenalter die Stresssituationen schlechter bewältigen“, erklärt Dr. Hauth.
Achtsam balanciertes Leben
Angesichts der vielen Herausforderungen in der Großstadt, vielen Berlinern fällt da zuerst das tägliche Verkehrschaos ein, fragt man sich schon, was man tun kann, um sich gegen Stress zu wappnen. Die seit 1998 im Alexianer St. Joseph Krankenhaus tätige Psychiaterin und Psychotherapeutin Hauth fasst ihre Erfahrung knapp so zusammen: Unabhängig vom Wohnort, aber besonders in der Stadt, ist es immer aufs Neue anzustreben, ein „achtsam balanciertes Leben“ zu führen. Die gute Balance soll zwischen den Herausforderungen des Berufs und Alltags sowie den ruhigeren Zeiten hergestellt werden. So lautet ihr Credo: Man sollte sich Auszeiten nehmen und jeder muss selbst herausfinden, was ihm gut tut. Der eine braucht einen Spaziergang im Grunewald, der andere fährt mit der S-Bahn in ländliche Regionen oder hört im Feierabendverkehr auf Kopfhörern seine Lieblingsmusik. Im Verlauf der Woche und nicht nur im Urlaub Zeiten des Rückzugs finden und das tun, was einem gut tut. Das kann das Fitness-Studio oder eine Fahrradtour sein, ein Buch lesen oder Entspannungsübungen machen.
Untaugliche Stress-Medizin Alkohol
Beginnende psychische Erkrankungen lassen sich an Frühwarnsymptomen erkennen. Dr. Hauth zählt aus ihrer medizinischen Praxis einige auf. Da sind zunächst einmal die Schlafstörungen wie nachts aufwachen und nicht wieder einschlafen können, Konzentrationsstörungen im Alltag, ein Verstimmungs-Zustand („keinen Bock haben“-Stimmung) und eine gewisse Antriebslosigkeit, nicht abschalten können, wenn am Wochenende die Arbeitsprobleme im Kopf kreisen. Dazu kommen körperliche Symptome wie Rücken- und Kopfschmerzen, wo der Hausarzt sagt, da ist nichts zu entdecken. Wenn diese Symptome mehrere Wochen anhalten, dann ist es ein Warnsignal, um sich Hilfe zu holen.
Zeitweilige Stressphasen können Leistungen stimulieren, bei chronisch anhaltendem Stress besteht allerdings ein Risiko psychische Erkrankungen, z. B. Depressionen, zu entwickeln. „Vor allem besteht auch die Gefahr, solche Symptome mit untauglichen Mitteln zu behandeln. Um zum Feierabend daheim von der Anspannung herunterzukommen, wird von manchen regelmäßig Alkohol getrunken. Da treibt man den Teufel mit dem Beelzebub aus.“
Wer bei längerfristig auftretenden Symptomen nicht allein gegensteuern kann, sollte schon die Konsequenz aufbringen, so die einhellige Meinung der Experten, sich vom Hausarzt oder Facharzt helfen zu lassen. „Wir haben in unserem Krankenhaus ein medizinisches Versorgungszentrum, in dem Fachärzte für Psychiatrie und auch psychologische PhysiotherapeutInnen arbeiten. Dort kann jeder einen ersten Gesprächstermin vereinbaren und sich beraten lassen“, sagt Dr. Hauth. „Daraus muss nicht eine Behandlung folgen, sondern das Ergebnis des Gespräches kann beispielsweise ein Coaching sein oder Ratschläge für Kurse zur Entspannung in der Volkshochschule oder Kurse zum Stressabbau-Training.“
Täglich 24-Stunden-Akutaufnahme
Im Alexianer St. Joseph Krankenhaus ist auch eine tägliche 24-Stunden-Notfall- Akutaufnahme eingerichtet. Gerade an Wochenenden oder in den Nachtstunden melden sich hier Menschen mit depressiven Zuständen, nicht selten Angst- Attacken. „Wir können direkt und zeitnah eine ambulante Behandlung in unserem medizinischen Versorgungszentrum, in besonderen Fällen auch in unserer Institutsambulanz, anbieten. Wenn das nicht ausreicht und eine intensive Therapie erfolgen soll, stehen bei uns noch vier Tageskliniken zur Verfügung mit Therapie von 8 bis 16 Uhr“, erläutert Chefärztin Hauth. „Nur wenn jemand stark in seinem Alltagsleben beeinträchtigt und so verzweifelt ist, dass er lebensmüde Gedanken hat, dann wird er bei uns stationär aufgenommen.“
Gerade bei chronischem Stress geht es den Medizinern darum, in einer Analyse die persönlichen Stressfaktoren herauszufinden und die Konflikte zu ermitteln, die dahinterstehen. Erst dann kann eine Strategie für die Behandlung entwickelt werden. „Neben Einzelgesprächen und Gruppentherapien werden Stressbewältigungstraining und Entspannungsverfahren wie autogenes Training oder Joga angeboten. Zum anderen ist es manchmal hilfreich, im Fitness-Studio und der Turnhalle auf unserem Gelände regelmäßig Sport zu treiben.“ Studien belegen, dass regelmäßig ausgeübter Ausdauersport, drei Mal 30 Minuten Jogging pro Woche, vorbeugend gegen das Aufkommen von depressiven Störungen wirkt und sogar bereits vorhandene Depressionen zurückdrängen kann.
Mehr Zeit für sich selbst nehmen
Die Probleme der Stressfaktoren werden nicht kleiner, wenn gegenwärtig bereits die Hälfte der Weltbevölkerung in Großstädten lebt, Tendenz steigend, im Jahr 2050 sollen es sogar zwei Drittel der Menschheit sein. Deshalb ist für Dr. Hauth unbedingt weitere Forschung nötig, um die urbanen Stressfaktoren besser herauszufiltern. Bei vielen Menschen sei schon angekommen, dass man etwas tun muss, um körperlich gesund zu bleiben, also gesund essen, möglichst Sport zu treiben und sich zu bewegen. „Demgegenüber ist der Wissensstand darüber“, so Dr. Hauth, „wie man sich psychisch gesund halten kann, doch noch sehr gering.“ Es ist also Zeit für den Großstädter, seine eigenen Stressfaktoren zu reduzieren, indem er sich selbst mehr Zeit nimmt.