Verkehrsversuch in der Friedrichstraße voll und ganz gescheitert – Anwohner und Vertreter aller Gewerbe erhoffen sich von der zukünftigen Regierung konstruktive Gespräche zu einem innovativen Verkehrskonzept für die historische Mitte Berlins.
Berlin ist in einem steten Wandel und steht nie wirklich still. Die Straßen sind dabei die Adern der Stadt. Der Verkehr fließt durch sie hindurch, und alles ist in Bewegung. Doch was geschieht, wenn man eine Ader kappt und einen Straßenabschnitt schließt? Wie wirkt sich das auf die betroffene Straße und ihre Umgebung aus? Und was bedeutet dies für Geschäftstreibende, Passanten und Anwohner? In der Friedrichstraße hat man dies erprobt. In Form eines Verkehrsversuchs wurde die belebte und beliebte Straße zwischen Französischer und Leipziger Straße für mehr als zwei Jahre geschlossen – mit fatalen Folgen für Hotels und Gewerbetreibende. Nun wurde dem Verkehrsversuch „Flaniermeile Friedrichstraße“ durch ein Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts zwanghaft ein Ende gesetzt. Anja Schröder, Inhaberin einer Weinhandlung in der Charlottenstraße, hatte gegen die Sperrung für den Autoverkehr geklagt – und den Prozess gewonnen. Seit 25. November fließt der Verkehr wieder durch die Friedrichstraße. Und doch ist nichts wie zuvor. Das Chaos ist nun an anderer Stelle entstanden.
Rückblick: Es ist Frühjahr 2020: Eine geplante Potentialanalyse für die „Zukunft der Friedrichstraße/Unter den Linden“ sollte auf Initiative von DIE Mitte e.V., einem Zusammenschluss aus Gewerbetreibenden, gemeinsam mit der Senatsverwaltung für Wirtschaft und Verkehr am 4. März mit Anrainern, IHK, Handelsverband Berlin-Brandenburg und DIE MITTE e.V. beauftragt werden. Doch die damalige Senatorin Verkehr veröffentlichte die Information: „Verkehrs-Sperrung der Friedrichstraße ab Juni für sechs Monate“. „Das ursprünglich für eine gemeinsame Potentialanalyse einberufende Treffen geriet durch die Ideologie des Senats, nicht abgestimmt mit den anderen Teilnehmern, in eine völlig unnötige Eskalation. Ohne Zahlen, Fakten und Zielstellung die Sperrung der Friedrichstraße als alleinige Aktion anstelle einer Planung und Abstimmung mit der Beauftragung einer Potentialanalyse“, heißt es auf der Website des Vereins.
Am 20. August 2020 startete der Verkehrsversuch mit dem Ziel, „die Attraktivität der Friedrichstraße für Berliner und Touristen zu erhöhen und damit auch Gewerbe und Einzelhandel zu stärken“. So ist es im Hauptstadtportal Berlin.de zu lesen. Bei dem Verkehrsversuch solle laut Senatsverwaltung herausgefunden werden, welche Auswirkungen dies auf den Fuß-, Rad-, Auto- und Lieferverkehr der Gegend habe und was die Nutzerinnen und Nutzer der Friedrichstraße davon haben. Und so standen plötzlich die Bänke auf der Fahrbahn, und Gewächshäuser zierten den Asphalt. Es war still. Es war kein Autolärm zu hören. Stattdessen zwitscherten die Vögel, Menschen schlenderten über die Straße mit einem Becher voll heißem Kaffee in der Hand und machten es sich auf einer der Bänke bequem.
Die Idylle trügt
Doch von Idylle keine Spur – was so friedlich anmutete und positive Ergebnisse für die Geschäftsstraße bringen sollte, sorgte allgemein nicht nur bei Geschäftsinhabern, Hotels und Restaurants für großen Ärger: 500 Meter Straße, 100 Sekunden Radfahrspaß, ein paar Meter mehr Raum für Cafés, Sitzmöglichkeiten, dafür aber keine Autos und keine Parkplätze – das erhoffte positive Beispiel für die Mobilitätswende entpuppte sich als Reinfall.
„Ohne mit den Geschäften und Lokalen vor Ort gesprochen zu haben, hat der Senat die Sperrung der Friedrichstraße beschlossen, die Querstraßen abgeriegelt und damit dem ganzen Viertel geschadet“, kritisiert Anja Schröder.
Schröder verweist auf den Lieferverkehr, der sich an der Straßenecke staute. Sie bemängelt, dass der Senat seinen Verkehrsversuch nicht ausreichend geplant habe. „Es muss doch auch mit einbezogen werden, welche Auswirkung die Sperrung der Friedrichstraße auf die direkte Umgebung hat, auf die sich das ganze Verkehrsaufkommen nun verlagert hat“, sagt sie. Seit 2005 hat die gebürtige Rostockerin ihre Weinhandlung an der Charlotten-/Ecke Mohrenstraße. Im Sommer sitzen normalerweise viele Kunden draußen an den Tischen. Doch durch den vermehrten Verkehr setzte sich in den vergangenen zwei Jahren kaum noch jemand.
Auch die Friedrichstraße wurde nicht so genutzt wie erwartet. Thomas Lengfelder, Hauptgeschäftsführer des Hotel- und Gaststättenverbands Berlin e.V., erklärt: „Die Friedrichstraße starb mehr und mehr aus und war keine schicke Flaniermeile, sondern eine Rennstrecke für Radfahrer.“
Das sehen andere Geschäftstreibende ähnlich. Robert Rausch, Geschäftsführer vom Schokoladenhaus Rausch an der Charlottenstraße 60, ist verärgert: Alles, was hier gerade geschieht, ist eine absolute Farce“, sagt er. „Es wurde unendlich viel Kohle verbrannt, und es wurde eine Kampagne durchgeführt, von der niemand wirklich etwas gemerkt hat.“ Er bezeichnet den Fahrplan der Politik als „asozial“ und „totalen Murks“ ohne ein Konzept. Das Schokoladenhaus besuchen pro Jahr mehr als eine Million Menschen, um etwas von den süßen Leckereien zu kaufen. Doch seit der Schließung der Friedrichstraße bemerkt auch er negative Veränderungen für das auf drei Etagen befindliche Schoko-Geschäft.
Für das umstrittene Modellprojekt zur autofreien Friedrichstraße sind allein im ersten Jahr bis Ende Januar 2021 Kosten von mehr als einer Million Euro entstanden – und weder Einzelhändler noch Fußgänger noch Anwohner sind glücklich. „Allein die Gewächshäuser schlugen mit 40.000 Euro zu Buche“, entrüstet sich Anja Schröder. Trotz der Investitionen brachte es dem Kiez nur Pech. Die Sperrung führte zu wirtschaftlichen Verlusten für die Geschäfte sowohl auf der Friedrichstraße als auch in den Nebenstraßen, da der dorthin ausweichende Verkehr „zu einer extrem schlechten Aufenthaltsqualität auf den Außenterrassen führte“, sagte die Weinhändlerin. Vom ersten Tag der Schließung im August hatte sie plötzlich 140 Prozent mehr Verkehr vor ihrer Weinhandlungs-Tür – an ein gemütliches Draußen-Sitzen war nicht mehr zu denken. Allein in der Friedrichstraße haben mittlerweile 20 Geschäfte aufgegeben, andere kämpfen nach wie vor ums Überleben.
Konzept erhält kräftigen Gegenwind
Um den Verkehrsversuch zu stoppen und sich für eine attraktive Friedrichstraße stark zu machen, wurde das Aktionsbündnis „Rettet die Friedrichstraße“ gegründet. Mit dabei: Die MITTE e. V., der Wirtschaftskreis Mitte e. V., die IG Gendarmenmarkt Berlin e.V. sowie die Zukunft Gendarmenmarkt. Sie alle machten sich stark für eine attraktive Friedrichstraße.
Anja Schröder nahm sich einen Anwalt und klagte. Schließlich sei eine vom Senat beschlossene Straßensperrung nur aus Gründen der Sicherheit und Ordnung möglich, begründete sie – und gewann. Am 25. Oktober hat das Verwaltungsgericht Berlin den sofortigen Rückbau zur Straße für alle Verkehrsteilnehmer entschieden, wieder für den Verkehr geöffnet wurde die Friedrichstraße knapp einen Monat später.
Umweg: Charlottenstraße
Zwar ist die eine Schlacht gewonnen, da fängt die nächste an: Denn nach der Wiedereröffnung der Friedrichstraße wurde nun die Charlottenstraße in eine Einbahnstraße samt Fahrradweg umfunktioniert. Allerdings führt die Einbahnstraße nicht durchgängig in eine Richtung, sondern diese wechselt viermal – an jeder Kreuzung. „Es ist ein absolutes Verkehrschaos und auch für die Radfahrer gefährlich, weil Autofahrer sich nun an jeder Kreuzung neu orientieren müssen“, sagt Schröder. Für die anliegenden Hotels ist der neue Zustand ebenfalls unzumutbar. Nachdem die Hotels als Beherbergungs- und Gastronomiebetriebe in besonderem Maße von der Corona-Pandemie betroffen waren, sind sie durch die Bauarbeiten auf dem Gendarmenmarkt ohnehin schon in einer schwierigen Situa-
tion. Hoteliers befürchten, dass sich durch das Einbahnstraßensystem der Verkehr auf umliegende Straßen verlagere und Staus verursache. Zudem werde es Reibungspunkte zwischen Radfahrern und den Gästen geben, die per Auto anreisen. Die Anfahrten zu den Hotels würden immer schwieriger. Auch werde der Lieferverkehr behindert. Eine Situation, die große Sorgen bereitet.
Der große Wunsch
Alle Betroffenen – ob Hotels, Gastronomen oder Geschäftsinhaber – fordern ein verkehrliches Gesamtkonzept. DIE MITTE e.V. fordert eine internationale Ausschreibung für die Historische Mitte unter Verkehrspolitischen sowie Städtebaulichen Aspekten und keine provinzielle Planung um einen gescheiterten Verkehrsversuch von ein paar Hundert Metern herum. Thomas Lengfelder erklärt: „Wir würden uns passende Experten dazu holen, um ein solches Konzept zu erstellen, das nicht nur eine Straße betrachtet, sondern die gesamte historische Mitte. Gemeinsam mit allen Beteiligten können wir dann die bestmögliche Lösung finden“, fügt er abschließend hinzu.