Klarheit und Konzentration lassen eher an ein Coaching-Seminar oder einen Meditationskurs denken als an einen Bar-Besuch. Doch in der Bar am Steinplatz in Charlottenburg ist manches anders als anderswo, aber alles so, dass die Fachwelt aufmerksam beobachtet, was Barchef Christian Gentemann und sein Team (Anne Linden, Griseldis Tritz und Stefan Gunzelmann) kreieren.
Cocktailkunst wird hier auf hohem Niveau zelebriert. Die allerdings sieht gerade ziemlich farblos aus, hat auch keinen ausgefallenen Namen (wer will schon immer „Sex on The Beach“, Zombies begegnen oder fliegende Kangaroos sehen?), wird in gleichen Gläsern serviert und ist klar bis auf den Glasgrund. Die Unterscheidungsmerkmale sind winzige Deko-Details. Purismus pur und eine Herausforderung für die Sinne unter dem Motto „taste the difference“, denn das Geschmackserlebnis ist intensiv und weich. Koriander, Dillblüte oder Bergamotte? Fruchtig, kräuterig oder eher rauchig? „Ich freue mich immer, wie unsere Gäste mit und bei diesen Cocktails den Aromen nachspüren und miteinander ins Gespräch kommen“, erklärt Christian Gentemann.
Die Idee kam dem Bartender mit den internationalen Erfahrungen bei einer Reise nach London im Frühjahr 2018, wo gerade viele neue Bars entstehen. Die „Clarified Drinks“ liegen hier voll im Trend und so wurde am Steinplatz experimentiert, probiert und intensiv gearbeitet, bis das klare Ergebnis überzeugte. Zehn Cocktails stehen auf der Karte, die gerade bei den MIXOLOGY BAR AWARDS, der wichtigsten Auszeichnung der deutschsprachigen Bar- Industrie, als „Barkarte des Jahres 2019“ gekürt wurde. Die Karte ist so einfach zu lesen wie ein Comic, und wer nicht lesen mag, zeigt einfach auf die Abbildung der Früchte, Kräuter oder anderen aromatischen Zutaten. Auszeichnungen sammelt die Bar am Steinplatz seit ihrer Eröffnung im Dezember 2013 wie Leistungssportler Meistertitel: 2017 und 2018 als Hotelbar des Jahres in den sogenannten DACh-Staaten (Deutschland, Österreich und Schweiz) gewählt, wurde sie beim Fizzz Award im September 2018 als „Innovativste Bar 2018“ ausgezeichnet und schon kurze Zeit später kam der Preis für die wohl außergewöhnlichste Karte. Das Geheimnis des Erfolges ist die Mixtur aus der Leidenschaft für flüssige Trends, der lässig-gediegenen Atmosphäre und dem Antrieb, immer wieder gewohnte Dinge infrage zu stellen. So wie vor zwei Jahren, als Christian Gentemann Gin von der Karte verbannte. Eine Bar ohne das ultimative Trendgetränk? Das war Teil des Problems, „denn ich stellte immer mehr fest, dass beinahe inflationär immer neue Ginsorten auf den Markt kamen, die nach allem Möglichen schmeckten, nur nicht nach Wacholder“, erklärt der Bar-Fachmann und listete das erklärte Lieblingskind der meisten Barkeeper aus. Stattdessen bekam ein Getränk aus Westfalen, das in seiner Steinzeugoptik und dem antiquierten Schriftzug an Opas Getränkevorrat erinnert, seinen großen Hauptstadt-Auftritt: Eversbusch. Opa ist gar nicht so verkehrt, denn der klassische Doppel-Wacholder wird nach Originalrezeptur des Ur-Ur-Urgroßvaters in einer Destille gebrannt, die die industrielle Revolution und zwei Weltkriege durch- und überlebte. „Es ist ein ehrliches Produkt, dessen Geschmack überzeugt“, begründet der Barchef die viel diskutierte, mutige Entscheidung.
Überraschung und Faszination, gemixt mit einer locker-lässigen Atmosphäre, führen in der Bar am Steinplatz eine glückliche Beziehung. Neben den internationalen Gästen sind 70 bis 80 Prozent Stammbesucher – auch das dürfte ein Rekord für eine Hotelbar sein. Der luxuriöse Art-Deco-Stil und großflächige Fotos an den Wänden des denkmalgeschützten Jugenstilbaus erinnern an die Geschichte des Hauses, das in seinem ersten Leben Nobel-Herberge für Intellektuelle und Künstler war. Zarah Leander, der Schriftsteller Vladimir Nabokov, Romy Schneider und Alain Delon stiegen hier ab. Später verfiel der einstige Glanz. Hundert Jahre, nachdem am Steinplatz erstmals ein Hotel eröffnet wurde, feierte das heutige 5-Sterne-Haus 2013 glanzvoll Auferstehung.
Bleibt nur noch die Frage, was eigentlich ein Bartender der Champions- League am liebsten trinkt? Christian Gentemann mag den klassischen italienischen Negroni, der in den 1920er- Jahren erstmal gemixt wurde und bittersüß wie das Leben schmeckt. Und er ist bekennender Bierfreund, was die Karte mit einer handverlesenen, für eine Bar sehr umfangreichen Auswahl offenbart. Die Biere sind geordnet nach Hefe, Hopfen und Malz, darunter eine Berliner Weiße mit dem schönen Namen Schneeeule, ein Kellerbier von Riegele oder das belgische Saison von North Coast. Einziges Entscheidungskriterium „ist die Qualität des Bieres“, bekennt der in Ostwestfalen geborene Hotelfachmann, den es nach erfolgreich beendeter Lehre in die große weite Welt zog. Er fuhr mit einem Kreuzfahrtschiff über die Meere und arbeitete anschließend in Hamburg und Berlin in verschiedenen Bars, darunter eine Bar auf dem Hamburger Kiez, eine Pop-up- Bar in Berlin, die Bar Lebensstern im Café Einstein Stammhaus und die Bar im Waldorf Astoria während der Eröffnung. Bei aller Freude an erlesenen Getränken und dem Stolz auf Erfolge definiert Christian Gentemann die schönsten Momente im Arbeitsalltag, „wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen“. Manchmal hilft er da ein wenig nach …