Berliner Schnauze – über das Verschwinden des Berlinischen
Hart, aber herzlich. Großet Herz auf der Zunge. Schlagfertig, direkt, meckernd, übertreibend und undiplomatisch ist die Berliner Kodderschnauze. „Der affige Nieselpriem soll sich erst ma wat hinter seine Kiemen schieben und einen zwitschern“ bedeutet, dass ein alberner langweiliger Typ etwas essen und danach einen Schnaps trinken soll. „Atze und Keule“ sind großer und kleiner Bruder. „Dit aus der Lamäng zu machen“ bedeutet, es „einfach so“ zu tun. „Ick liebe Dir“ oder „Plusta Dir ma nich so uff“ klingt für Nichtberliner falsch und liegt daran, dass es in den niederdeutschen Dialekten, aus denen das Berlinische diese Eigenschaft geerbt hat, keine Unterscheidung zwischen Akkusativ und Dativ gibt. Schusterjungen und Schrippen gibt‘s auch noch beim Bäcker. Aber den Gassenjargon aus den Hinterhöfen der Mietskasernen und Kaschemmen von „Zille sein Milljöh“ gibt’s heute zunehmend nur noch auf der Bühne oder im Film. Oder spricht im Alltag wirklich noch jemand so?
Das Berlinische könnte, wie auch die anderen Dialekte in Deutschland, langsam verschwinden, so Michael Solf, Sprachforscher am „Zentrum Sprache“ der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. „Dort, wo es noch lebendig ist, wird es von immer weniger Menschen in immer weniger Situationen und mit immer weniger typischen Dialektmerkmalen gesprochen, auch wenn diese Entwicklung langsam und deshalb für viele kaum merklich verläuft.“ Das kann man aus nostalgischen Gründen bedauern, diese Entwicklung ist aber – gerade in einer Welt von Massenmedien und flexiblen Menschen, die wegen Arbeit und Karriere umziehen – möglicherweise nicht mehr aufzuhalten. Ein Ersatz für das Deftige der Dialektsprache ist vielleicht „die unglaubliche sprachliche Obszönität, die uns heute umgibt“, schätzt Solf. Bildungssprache eignet sich schließlich nicht für alle Situationen. Menschen haben das Bedürfnis, ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe auch sprachlich kräftiger auszudrücken. „Das lebendige Berlinische war immer ein Wettbewerb an Originalität“, so der Sprachforscher. Der 48-Jährige, der am Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache arbeitet, wuchs „zweisprachig“ auf, bemerkt er augenzwinkernd. Neben dem Hochdeutschen beherrscht er auch das Berlinische.
„Voll krass“ statt „knorke“
Der Wettbewerb um Originalität in der Sprache und um kräftige Ausdrücke geht mit dem langsamen Verschwinden des Dialekts nicht verloren, sondern wird nur ersetzt. Durch Kiezdeutsch beispielsweise – „Isch mach Disch Messer, Alder!“ – eine multiethnische Mundart, die durch Komödianten auf Bühnen und im Fernsehen bekannt wurde und die man täglich auf einer U-Bahn-Fahrt durch Neukölln oder Wedding hören kann. Manche Sprachexperten sehen den Migranten-Jargon „Kanak Sprak“, der besonders von zweisprachig aufgewachsenen Jugendlichen der zweiten oder dritten türkischen Einwanderergeneration gepflegt wird, als neuen Dialekt an, andere wiederum eher als „Sprache von Deutsch-Lernern, die das Deutsche nicht richtig beherrschen“.
Bring ma bloß nich in die Bredullje – Bring mich nicht in Schwierigkeiten!
Welcher Einfluss heute am größten ist? Michael Solf überlegt lange. „Das Berlinische nimmt in dieser Beziehung wohl keine selbstständige Entwicklung mehr.“ Interessanter ist das Neben- und Miteinander von Ost- und Westberliner Eigenheiten. Nachdem Ossis und Wessis seit der Wiedervereinigung 1990 im Alltag aufeinandertrafen, machten sich Sprachforscher Gedanken zu Unterschieden bei Wortschatz und Aussprache. Westberliner meinten zum Beispiel, dass man bei ihnen statt „Kneipe“ eher „Pinte“ sagt, ein aus dem Ruhrgebiet eingewandertes Wort. Ob solche Selbstauskünfte allerdings repräsentativ sind, ist leider nicht für alle Fälle genug untersucht. Grammatikalisch verrät sich der Berliner auch heute, selbst derjenige, der ansonsten eine hochdeutsche Aussprache pflegt. Nirgendwo sonst in Deutschland sagt man, dass man seine Bücher im Regal zu stehen hat. Dieses „zu“ ist ganz typisch, so Michael Solf. In den meisten Fällen ist das Berlinische aber nahe an der Hochsprache.
Im Mittelalter sprachen die Berliner einen niederdeutschen Dialekt. Dann kam das Sächsische, das in Berlin eine große Rolle spielte. Durch starke Handelsbeziehungen und familiäre Verflechtungen in Richtung Süden kam es, dass die Berliner Oberschicht spätestens seit dem 16. Jahrhundert viele Merkmale des Sächsischen übernahm. Berlinisch könnte demnach ein „Sächsisch mit niederdeutscher Aussprache“ sein.
Berlinisch auf der Straße?
Die niederdeutschen Dialekte Brandenburgs sind bis auf Ausnahmen in Prignitz und Uckermark fast ausgestorben, so Michael Solf. Sie wurden beinahe vollständig vom Berlinischen verdrängt. So kommt es, dass heute in Brandenburg sogar selbstverständlicher berlinert wird als im Schmelztiegel Berlin. Ob in Reinickendorf, Tempelhof oder Köpenick – am ehesten Berlinisch sprechen die Menschen an der Peripherie der Stadt, also dort, wo sich die angestammte Bewohnerschaft am wenigsten durch Zugewanderte verändert hat. Trotz Max Liebermann und anderer Vertreter der Oberschicht, die kräftig berlinern konnten – in Villengegenden wie Zehlendorf braucht man nach der Berliner Schnauze nicht groß zu suchen, weil dem Berlinischen schon immer das Stigma des Prolligen, Proletenhaften und Primitiven anhaftete. Wer was werden wollte, sprach mehr oder weniger gepflegtes Hochdeutsch. Ganz im Gegensatz zu Prenzlauer Berg, früher ein klassischer Arbeiterbezirk, in dem bis in die jüngste Gegenwart stark berlinert wurde. Ob Schichtarbeiter oder Intellektueller – zu DDR-Zeit wurde der Dialekt von den Hauptstädtern kultiviert, um sich vom Rest der Republik, insbesondere den Sachsen, abzuheben. Von einer echten Sprachmauer zwischen Ossis und Wessis kann heute jedoch keine Rede sein. Zwischen den verschiedenen Bevölkerungsschichten macht Michael Solf einen viel größeren sprachlichen Unterschied als zwischen Ost und West aus.