Die Gegenwart rückt näher

von Gerald Backhaus

Dr. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele/Foto: Annette Hauschild / OSTKREUZ

Auf ein Wort …

mit Dr. Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele.

Das Theatertreffen ist – eingebunden in die Berliner Festspiele – einer der Höhepunkte der Theaterwelt des deutschsprachigen Raums. Im Februar gab die Jury ihre Auswahl für die 53. Ausgabe des Theatertreffens, das vom 6. bis zum 22. Mai 2016 stattfindet, bekannt. Zuvor wurde mal wieder eine Mammutaufgabe bewältigt: 394 Inszenierungen in 59 deutschsprachigen Städten waren von den Juroren zu besuchen. 741 Voten gingen bei der Leitung des Theatertreffens ein, die einzelnen Juroren sahen jeweils zwischen 78 und 131 Inszenierungen. Wir fragten Dr. Thomas Oberender, den 1966 in Jena geborenen Intendanten der Berliner Festspiele, zum Theatertreffen 2015 und dazu, was uns in diesem Jahr alles erwartet, zum Theater generell und zu seinen Lieblingsorten in Berlin.

Herr Oberender, bevor Sie den Intendantenposten in Berlin übernahmen, waren Sie von 2006 bis 2011 Schauspieldirektor bei den Salzburger Festspielen. Was unterscheidet die beiden Städte am meisten? Was meine eigene Arbeit betrifft, in Salzburg gibt es nur einmal im Jahr Festspiele, in Berlin das ganze Jahr. Wir machen hier ständig Ausstellungen und Festivals. In Salzburg kommt die große weite Welt nur zwei Mal im Jahr vorbei, aber das ist dann auch sehr schön.

Das Theatertreffen 2015 war vielseitig, politisch und bot Raum für viele kontroverse Diskussionen. Was war für Sie das Schönste daran? Noch bevor die wirklich große Flüchtlingswelle Deutschland erreichte, hat das Thema das Theatertreffen zentral geprägt. Hier war zu erleben, wie die geopolitischen Entwicklungen auf einmal eine Diskussion um die adäquaten ästhetischen Formen und künstlerischen Strategien bewirkte.Denken Sie an Nicolas Stemanns Inszenierung von „Die Schutzbefohlenen“ oder die Diskussionen und Workshops mit Experten, Menschen mit Fluchterfahrung und aus sozialen Initiativen. Was die Künstler betrifft, so sind Susanne Kennedys vielschichtige Theaterinstallationen und das Fantasie sprachliche Paralleluniversum von Talking Straight um Daniel Cremer in Erinnerung geblieben.

Was wird bei der 53. Ausgabe 2016 anders? Die Gegenwart rückt einem plötzlich vehementer nahe – in zeitgenössischen Adaptionen, Aktualisierungen und Stückentwicklungen, aber auch in anderen Referenzsystemen der heutigen Regieteams. Die Auswahl bildet eine jüngere Generation von Künstlern ab, die überwiegend weiblich sind und die Theaterlandschaft seit geraumer Zeit prägen.

Was erwartet die Zuschauer im Mai?Auf welche der 10 Inszenierungen, die aus den 38 vorgeschlagenen ausgewählt wurden, sollte man besonders gespannt sein? Auf die Newcomer. Junge Regisseure und Regisseurinnen wie Anna-Sophie Mahler, Ersan Mondtag und Daniela Löffler. Ein umfangreiches Programm wird den „State of the Art“ des zeitgenössischen Theaters zeigen – viele Entdeckungen wie neue Autoren, innovative Projekte, internationale junge Künstler, und außerdem Begegnungen mit der Bildenden Kunst. Unsere Isa-Genzken-Ausstellung im Gropius-Bau wird auch eine Rolle beim Theatertreffen spielen. Das Festival war in den letzten Jahren ein starker Impulsgeber für die wichtigen ästhetischen und gesellschaftlichen Debatten unserer Zeit – und es gibt Premierenfeiern, Preise und Künstlergespräche, die das Theater und seine Künstler zwei Wochen hoch leben lassen.

Die Theatertreffen-Jury besteht aus sieben ehrenamtlichen Theaterkritikern, die maximal drei aufeinanderfolgende Jahre im Amt bleiben. Berufen wird die Jury von Ihnen, dem Intendanten und der Leitung des Theatertreffens. Worauf kommt es bei der Auswahl besonders an? Esprit, Erfahrung, Neugier. Daneben spielen pragmatische Gesichtspunkte wie die regionale Verteilung und das Abbilden verschiedener Medien eine Rolle. Wir kuratieren die Jury aus unterschiedlichen Temperamenten und die Jury kuratiert dann eine hoffentlich spannende Auswahl, die auf der Möglichkeit zum Vergleich und kollektiven Debatte beruht, was kein anderes Verfahren so gewährleistet.

In letzter Zeit wurde es im Theater wieder lebendiger und man beschäftigt sich vielerorts mit hochpolitischen Themen. Wie betrachten Sie als Fachmann die Gegenwart des Theaters und seine Zukunft? Es gibt immer mehr Aufführungen, ihre Zahl nimmt beständig zu, und dabei immer mehr Theater, das nicht mehr aussieht wie das Theater. Das ist spannend.

Welche weiteren Veranstaltungen liegen Ihnen 2016 besonders am Herzen? Die große Isa-Genzken-Ausstellung, die neuen Formate der Maerzmusik, die Arbeiten von Alain Platel und William Kentridge bei Foreign Affairs, die Maya-Ausstellung, jede Hervorhebung ist ungerecht.

Welche Gegenden von Berlin mögen Sie besonders, und wo gehen Sie gern essen und tanzen? Ich kenne jeden Baum und Strauch zu jeder Jahreszeit seit Jahrzehnten im Tiergarten, wo ich zwar nicht tanze, aber regelmäßig jogge, und dabei oft an Berlins schönstem Denkmal von Elmgreen und Dragset anhalte, wobei das eine recht eigene Schönheit ist, denn sie erinnert auf raffinierte Weise an die im Dritten Reich ermordeten Homosexuellen. Ich mag diese seltsam offizielle Gegend rund ums Brandenburger Tor, nicht weit davon ist das dóttir Berlin, wo Ólafur Elíassons Schwester kocht.

www.berlinerfestspiele.de

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